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Warum unsere Gesellschaft eskaliert – und wie Mediation helfen kann

Ein Gespräch mit Prof. Dr. Gernot Barth
Konflikte gehören zum Leben dazu – doch wie wir mit ihnen umgehen, macht den Unterschied. In einem intensiven Gespräch sprach Mediator und Moderator des Podcasts perspectives de mediation Pascal Gemperli mit Mediator und Institutsleiter Prof. Dr. Gernot Barth über die Bedeutung von Mediation in einer sich wandelnden Gesellschaft. Die Erkenntnisse zeigen: Mediation ist nicht nur ein Verfahren – sie ist eine Antwort auf unsere Zeit.
Konflikte überall – und eine Gesellschaft im Wandel
Familien, Unternehmen, Nachbarschaften, politische Räume – überall dort, wo Menschen miteinander zu tun haben, entstehen Konflikte. Doch heute scheint das Leben komplizierter, es gibt immer mehr Konflikte. Warum ist das so?
Prof. Dr. Gernot Barth sieht die Ursachen in einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel, der in den 1970er Jahren begann: Individualisierung, das Aufbrechen gesellschaftlicher Veränderungen, der Abbau von Hierarchien sowie steigende kommunikative Anforderungen prägen unser Miteinander. Wo früher klare Ansagen galten, wird heute verhandelt. Selbst ein banaler Satz wie „Bring bitte den Müll raus“ führt zu Aushandlungsprozessen innerhalb der Familie.
Digitalisierung, Globalisierung – und das Ende der Gewissheiten
Unsere Welt wird zunehmend komplexer. Globalisierung und Europäisierung stellen nationale Selbstverständlichkeiten infrage. Die Wirtschaft steht unter permanentem Veränderungsdruck, Migration bringt neue Lebensentwürfe zusammen, und die Digitalisierung beschleunigt Kommunikation und Entscheidungsprozesse auf allen Ebenen.
Viele Menschen befinden sich heute in vielen Bereichen in einem eskalierten Zustand. Das resultiert aus Konflikten und in diesen Konflikten herrschen Missverständnisse vor. Nach Friedrich Glasl ist ab der fünften von neun Eskalationsstufen kein echtes Verstehen mehr möglich – selbst wenn der Wille dazu vorhanden ist. Das mündet in Phänomenen wie Cancel Culture, in der Dialog durch Abgrenzung ersetzt wird.
Prof. Dr. Gernot Barth stellt dazu die Hypothese auf: Wir müssen lernen, besser miteinander umzugehen, ohne das es weniger verbindliche Regeln gibt. Wir müssen lernen, einander und uns selbst zu verstehen. Damit das aufgeht, müssen Menschen kommunikationsfähiger werden. Nur so gelingt es, in der komplexen Gegenwart gemeinsam Lösungen zu finden.
Die Zukunft der Mediation: Chancen und Herausforderungen
In einer Welt, in der Hierarchien abnehmen und Kommunikation an Komplexität gewinnt, braucht es neue Formen der Konfliktbearbeitung. Genau hier setzt Mediation an.
Die Bedeutung der Mediation wird in den kommenden Jahren weiterwachsen. Konflikte nehmen zu, und damit auch der Bedarf an strukturierten Verfahren zur Lösung. Gleichzeitig verändert sich die Art der Mediation:
- Die Anzahl der Fälle wird steigen.
- Mediand:innen sollen durch den Prozess nicht nur Lösungen finden, sondern auch lernen, besser miteinander umzugehen.
- Digitale Formate werden zur Selbstverständlichkeit: Seit der Corona-Pandemie haben sich Online-Mediationen etabliert.
- Künstliche Intelligenz wird unterstützend wirken – etwa als Übersetzungshilfe oder bei der Protokollführung. Lösungen wird sie nicht liefern, aber sie kann Prozesse effizienter gestalten.
Mediation muss dabei offen bleiben für neue Technologien, sich vernetzen mit anderen Formaten und Disziplinen, ohne dabei ihre zentralen Prinzipien zu verlieren: Freiwilligkeit, Ergebnisoffenheit und Vertrauen in den Dialog.
Neues wagen!
Mediation ist ein tragendes Element einer dialog- und zukunftsfähigen Gesellschaft. In einer Welt, die sich immer stärker individualisiert, braucht es Verfahren, die Verständnis, Verhandlung und Zusammenarbeit fördern.
Prof. Dr. Gernot Barth bringt es auf den Punkt:
„Wenn wir demokratische Gesellschaften sein wollen, müssen wir viel gemeinsam aushandeln.“
Mediation ist ein zentrales Instrument dieses Aushandelns – heute mehr denn je.
Zum Podcast
Perspectives de Médiation ist ein zweisprachiger YouTube-Kanal (Deutsch/Französisch), der vielfältige Einblicke in die Welt der Mediation bietet. Der Kanal beleuchtet aktuelle Entwicklungen, Methoden und Praxisbeispiele aus unterschiedlichsten Bereichen – von Familien-, Schul- und Nachbarschaftsmediation über Mediation in Unternehmen, Organisationen und öffentlichen Institutionen bis hin zu internationalen, politischen oder digitalen Anwendungsfeldern. In Interviews, Erfahrungsberichten und Reflexionen kommen Mediator:innen, Forschende und Praktiker:innen aus dem In- und Ausland zu Wort. Ein Ort für alle, die sich für konstruktive Konfliktlösung und neue Perspektiven in der Mediation interessieren.
Prof. Dr. Gernot Barth ist Professor für Konfliktmanagement und Mediation an der Steinbeis-Hochschule und ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Mediation. Er ist der Experte für Konfliktmanagement, innerbetriebliche Mediation und Bürger-/Öffentlichkeitsbeteiligungsverfahren bei Infrastrukturprojekten. Als Leiter des Beratungs- und Ausbildungsinstitute für Konfliktmanagement und Mediation IKOME | Steinbeis Mediation und mit seiner mehr als 20-jährigen Berufserfahrung als Mediator, insbesondere in der Wirtschaft half er bereits unzählige Konflikte zu regulieren. In den letzten Jahren standen dabei Konflikte im Gesundheitswesen, in Kommunen und in der Energiewirtschaft im Mittelpunkt.
Pascal Gemperli ist akkreditierter und vereidigter Mediator mit knapp 20 Jahren Erfahrung in straf- und zivilrechtlichen sowie organisationalen Konflikten. Er ist Gründer von Gemperli Consulting Sàrl, spezialisiert auf Mediation und LegalTech, Mitgründer des Friedenszentrums ae-Centre für Nordafrika sowie der digitalen Scheidungsplattformen amiable.ch und easydivorce.ch, die auf Online Dispute Resolution (ODR) setzen. Mit einem Master in Peace and Conflict Studies und Weiterbildungen in LegalTech und interkultureller Mediation verbindet er klassische Konfliktlösung mit digitalen Innovationen – für NGOs, Unternehmen, Behörden und Privatpersonen.
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