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Die Suche nach dem sozialen Klebstoff - Klaus Harnack für "Die Mediation"

Die Faustʼsche Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält, bewegt die nach Erkenntnis sich sehnende Menschheit seit jeher. Statt dieser existenziellen Erkundigung widmen wir uns hier ihrer kleinen Schwester: Was hält Paare, Teams, Gruppen und Gesellschaften zusammen? Gibt es ein soziales Bindemittel und wenn ja, wie sieht es aus? Wie funktioniert das anthropomorphe Nieten, Schrauben, Nageln, Stecken, Verkeilen, Verzapfen, Verzahnen, Klammern, Nähen, Schweißen, Pressen, Verknoten, oder Kleben? Wir begeben uns auf die Suche.

Klaus Harnack für "Die Mediation" 2/2021

 

Während das Kleben in der dinglichen Welt einen kontinuierlichen Siegeszug feiert, finden wir in der Beziehungswelt der Menschen das Geld als dominierendes Bindemittel, das für Zusammenhalt sorgen soll. Doch selbst Jean Paul Getty, der Mann, der Ende der sechziger Jahre als reichster Mensch der Welt galt und dem der Ausspruch „Money isnʼt everything, but it sure keeps the kids in touch“ zugeschrieben wird, konnte sich mit seinem Reichtum nur sehr wenig familiären Zusammenhalt erkaufen. Als wirksamer und nachhaltiger sozialer Kleber fällt Geld somit erfahrungsgemäß aus und es gilt, die Suche fortzuführen.

Der Schwarm als Startpunkt

Beginnen wir dementsprechend die weitere Forschung in Systemen, die sich durch Zusammenhalt definieren, wie zum Beispiel bei Vogel-, Fisch- oder Insektenschwärmen. Diese Schwärme lassen sich gut mit einer einfachen systemwissenschaftlichen Formel beschreiben: Bewege dich in Richtung des Mittelpunkts derer, die du in deinem Umfeld siehst. Durch dieses einfache Kohäsionsverhalten entsteht nicht nur der Mainstream politischer Positionierung, sondern auch eine amorphe dynamische Kugelform mit dem Zweck, sich vor Fressfeinden zu schützen. Diese Form des Zusammenhalts wirkt am besten, wenn es zu keiner Differenzierung zwischen den Mitgliedern einer Gruppe kommt. Es bedarf eines gleichgeschalteten Umfelds, in dem es zu keiner Bewertung der Beziehungsebenen kommt. Mit einem kurzen Blick aus dem Fenster stellen wir fest, dass in einer hochgradig bewerteten Welt die Prämisse eines Zusammenhalts ohne ständige Bewertung und Evaluation undenkbar erscheint, und wir führen deswegen unsere Suche fort.

Zusammenhalt durch Teilung

Schaut man sich die Funktionsweise von Klebstoffen an, so unterscheidet die Physik zwischen Kohäsions- und Adhäsionskräften. Während die Kohäsion die Kraft zwischen den Bestandteilen eines Körpers darstellt, wird die Kraft zwischen den Bestandteilen verschiedener Körper als Adhäsion bezeichnet. Das heißt, Adhäsion setzt bereits eine Separation und Grundordnung einzelner Elemente voraus. Um soziale Adhäsion entstehen zu lassen, könnte eine vereinfachte Formel lauten: Erkenne ich einen Hauch von mir in dir, kommt es zu einer ersten Bindung. Der sozialpsychologische Klassiker, der dieses Phänomen beschreibt, ist das Minimal Group Paradigma (Tajfel et al. 1971). Dieses Paradigma beschreibt, dass eine einfache und willkürliche Kategorisierung von Personen zu einer minimalen Gruppe – einer Gruppe, die nur im Kopf der Mitglieder besteht – ausreicht, damit die Mitglieder dieser Gruppe sich gegenseitig favorisieren und die Außengruppen vernachlässigen. Dieses Phänomen erweist sich als äußerst stabil und konnte in einer Vielzahl von Studien und in mannigfaltigen Kontexten repliziert werden (Robbins/Krueger 2005).

Der Vorteil eines gemeinsamen Feindes

Aufbauend auf der Tendenz, dass soziale Kategorisierung und Teilung als Grundlage für sozialen Zusammenhalt dienen, gibt es einen Verstärkungsmechanismus, der seine Wirkung nur sehr selten verfehlt: die Entdeckung eines gemeinsamen Feindes. Der auf Katastrophenfilme spezialisierte Regisseur Roland Emmerich macht diesen Zusammenhaltsverstärker der minimalen Gruppe zum dramaturgischen Hauptelement seiner Filme. Das Schema folgt einem immer wiederkehrenden Muster: Sobald die bösen Außerirdischen die Menschheit bedrohen, kommt es zu einem Zusammenschluss aller vormals verfeindeten Staaten. Selbst auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges kämpfen im Film die Amerikaner Seite an Seite mit den Russen und Chinesen und stellen sich mit geballter Kraft gegen die feindlichen Aliens. So wird der gemeinsame Gegner zum wahren Klassiker unter den sozialen Klebstoffen, auch wenn er mit einer Reihe von Nebenwirkungen verbunden ist. Auf der Habenseite stehen zwar der Schutz der Gruppe und eine weitere Identität, aber auf der Seite der Nachteile steht banal formuliert „schlechtes Denken“, denn hohe Kohäsion führt zu angepasstem und gleichgeschaltetem Denken.

In der irdischen (realen) Welt finden wir diesen Effekt beispielsweise bei Fußballfans. Während sich ein blauer Schalker und ein gelber Dortmunder am Stammtisch nur wenig Sympathien entgegenbringen, ändert sich diese Gefühlslage, sobald man das Thema auf die vermeintlichen „Geldvereine“ wie Paris Saint-Germain, Manchester City oder Red Bull Leipzig lenkt. Nun sind die eigenen Differenzen schnell vergessen und eine gemeinsame und verbindende Identität als Traditionsverein salient. Ein weiterer Grund, warum ein gemeinsamer Feind besser klebt als ein gemeinsamer Freund, ist, dass in der ersten Konstellation das spaltende Element der Konkurrenz und das Streben nach Anerkennung nicht vorhanden sind. In Summe, wenn nichts mehr dem sozialen Zusammenhang dient, wirkt ein gemeinsamer Feind fast immer.

Teilhabe statt Separation

Selbstredend kann auch diese Form der sozialen Kohäsion nicht als geeigneter Sozialkleber angesehen werden. Die kultivierte Form des sozialen Zusammenhalts kann deswegen nur ein Resultat von wohlwollenden Interaktionen sein. Ein dynamischer Zusammenhalt, der keine festen Formen verlangt und nur besteht, wenn wichtige Voraussetzungen wie ein minimaler Grad der Teilhabe, Empathie sowie Solidarität vorhanden sind und wenn der gleichberechtigte Zugriff auf Recht, Umwelt, Wissen, Kultur und Werte gewährleistet ist. Aus einem starren Wertekorsett muss ein schmuckes Wertenegligé werden, das die Kultivierung unserer Unterschiede als essenziellen Bestandteil in sich trägt.

Diese Einsicht wird in den vielen Plädoyers der politischen Sonntagsreden oft vergessen, wenn der Tenor lautet: „Jetzt müssen wir zusammenstehen!“, denn dieser Appell zielt nicht auf eine Kultivierung des Zusammenhalts ab, sondern basiert auf einer kritikfreien und konformen Gefolgschaft, die bei Fischen gut funktioniert, beim Menschen aber eher Reaktanz hervorruft. In diesem Sinne übergebe ich Ihnen den Staffelstab bei der Suche nach dem sozialen Klebstoff. Für diese Suche sei Ihnen Karl Jaspersʼ Wahrheit ist, was uns verbindet (Schulz 2009) mit auf den Weg gegeben.

Literatur

Tajfel, Henri et al. (1971): Social Categorization and Intergroup Behaviour. European Journal of Social Psychology 1 (2), S. 149–78. Online abrufbar unter: https://doi.org/10.1002/ejsp.2420010202.

Robbins, Jordan M./Krueger, Joachim I. (2005): Social Projection to Ingroups and Outgroups: A Review and Meta-Analysis. Personality and social psychology review 9 (1), S. 32–47.

Schulz, Reinhard (Hrsg.) (2009): Wahrheit ist, was uns verbindet. Karl Jaspers’ Kunst zu philosophieren. Göttingen: Wallstein.

 

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